Durch Angelikas Suizid wurde nach und nach nicht nur mein Leben, Studium, Alltag und meine Zukunft in Frage gestellt, sondern auch meine persönlichen Glaubensüberzeugungen. In meinem Tagebuch fand ich folgende Stelle aus dieser Zeit: „Ich weiss nicht mehr an was ich glaube: Wer ist Gott? Was ist Kirche? Was trägt? Vieles in meinem Leben scheint nicht mehr zu existieren. Dinge, die so unverrückbar schienen haben sich in Nichts aufgelöst.“ Viele Jahre hatte ich in einer reformierten Kirche mitgearbeitet, freiwillig und später als angestellte Jugendarbeiterin, ich war auf dem Weg ins Pfarramt, am Ende des Theologiestudiums, aber meine ganzen Glaubensüberzeugungen, mein Sinnsystem schienen zusammengebrochen. Wie bei einer Zwiebel begann sich Schicht um Schicht wegzuschälen, manchmal bewusst, häufig unbewusst. Dieser Vorgang dauerte allerdings Tage oder Monate, viel meiner Fragen und das Suchen zogen sich über Jahre hinweg.
Wie bereits beschrieben hatte sich mein bisheriges Bild von Kirche durch meine Enttäuschung schon aufgelöst. Ich verlor (zum Glück) den Glauben daran, dass es perfekte Gemeinschaft und heile Orte auf dieser Welt gibt. Doch es ging weiter: Traditionelle Gottesdienste waren mir immer zu eng und zu staubig gewesen, daran hatte sich nicht viel verändert. Doch bei den modernen Gottesdienstformen waren es vor allem die Lieder und die Fröhlichkeit, die ich nicht mehr ertragen konnte und mir fremd wurden. Alles schien mir zu seicht und zu lebensfern. Da hiess es beispielsweise in einem Lied: „I will worship you in my darkest hour, I will worship you when I am out of power…” wie sollte das gehen? Ich war nicht Paulus, der im Gefängnis noch Lieder sang und predigte. Ich wusste, dass ich in den dunklen Stunden keine Loblieder sang, da blieben höchstens noch Klage, Vorwürfe und oftmals auch Sprachlosigkeit Gott gegenüber.
Auch das Gottesbild wurde dekonstruiert oder vielleicht vielmehr erweitert. Es wurde facettenreicher und unschärfer. Ich wendete mich nicht vom christlichen Sinnsystem ab, aber von den vielen übernommenen Gottesbildern und Praktiken. Gott musste mehr sein als „mein Freund“ und ganz bestimmt nicht nur männlich, oder? Wie feiert man Gottesdienst, wenn man diese nicht erträgt? Wie betet man, wenn man sprachlos ist? Diese und viele weitere Fragen tauchten nach und nach auf und wechselten sich ab. Gott-los werden wollte ich nicht. Doch neue oder andere Formen musste ich für mich in dieser Trauerphase finden. So entdeckte ich zum Beispiel die Tagzeitengebete der Benediktiner. Was mich tief berührte war beispielsweise die lateinische gesungene Vesper im Kloster Einsiedeln.
Meine Gebete schienen belanglos und noch häufiger war ich wortlos. So zwang ich mich nicht zu inhaltsleeren Gebeten, sondern rang Wort um Wort mit der Sprachlosigkeit, bis sich mir das Gebet als Text in meinem Tagebuch darbot:
„Zum Himmel schau ich müd und leer,
Bin Körper, Hülle, Staub, Gebein
Doch schafft in mir, was ich nicht schaff?
Bewegt sich das was tot erscheint?
Nur durch Gott, durch ihre Kraft
Stillt sie den Ort der Hoffnung schafft
Nach oben hebe ich den Blick
zum Licht, das Licht im inneren ist.“
Ich lernte, dass Glaube häufig Suchen, Fragen, Nichtwissen und Ringen ist. Hoffen auf etwas, das man nicht wissen kann und doch irgendwie erahnbar ist. Suchen nach etwas, das Hoffnung schafft und ganz persönlich berühren kann. Das man nicht festhalten kann und dennoch in der Bibel und in der Geschichte der Kirche, in Bildern und Texten beschrieben wird. Nach einem misslungenen Versuch Worte für ein Gebet zu finden, schrieb ich in mein Tagebuch: „In mir gibt es auch viel Hoffnung. Ich glaube, dass ich Angelika wiedersehen werde, doch zuerst einmal muss ich leben, darf ich leben und ich darf hoffen und ich darf darauf vertrauen, dass mein Leben einen positiven Einfluss in dieser Welt haben wird.“
Reflexion
Was sich hier als kurzer Text darstellt, beschreibt in Realität einen jahrelangen facettenreichen Weg: Zweifeln – wieder glauben lernen – hinterfragen – Vertrauen wagen… Dieser setzt sich weiterhin fort, denn mein persönliches Glaubenssystem wurde durch die Trauererfahrung in Frage gestellt und über die Jahre hinweg „reframed“: vom vermeintlichen Besitz des richtigen Glaubens zu einem fragenden Hoffen.
Die Dekonstruktion von Glaubensüberzeugungen kann für religiöse Menschen ein schmerzhafter Prozessschritt in der Verarbeitung eines Suizides sein. Häufig bleibt nach einem Suizid nichts mehr wie es war – aber es kristallisiert sich dadurch auch der Kern, das was trägt, heraus. Alles was oberflächlich ist, wird dabei unerträglich. Dafür besteht die Chance neue und eigene religiöse Formen kennen zu lernen und dafür eine Sprache zu finden. Dieser Schritt ist nötig und muss nicht zwingend negativ sein. Durch mein Studium und später das Vikariat und Pfarramt, durch Freunde und die Promotion blieb ich theologisch und religiös im Gespräch. Gesprächsoffenheit und Dialogbereitschaft, gerade auch in Bezug auf religiöse Umbrüche, sind für trauernde Menschen hilfreich. Aber nur dann, wenn gemeinsam gesucht, gefragt und diskutiert werden darf und die Hinterbliebene nicht von religiösen Erwartungen und Anforderungen überrollt wird.