Fast 10 Jahre nach Angelikas Suizid arbeitete ich vier Monate in Kalifornien. Als mich mein Partner besuchte und wir für 10 Tage ein Auto mieteten, wurde mir schnell klar, was meine Zieldestination auf dieser Reise sein sollte. So fuhren wir los, immer Richtung Nordosten. Wir übernachteten in Las Vegas und kamen am nächsten Abend im Bryce Canyon an. Es war schon dunkel und wir waren unterwegs durch einen Schneesturm gefahren. So bezogen wir unser Hotelzimmer. Warum ich unbedingt dahin zurück wollte, wusste ich eigentlich selbst nicht so genau. Doch die letzten zehn Jahre hatte ich immer wieder, wie in einem Film, die gleichen Szenen vor Augen: Der Bryce Canyon mit seiner bezaubernden, bizarren Schönheit… der phantastische Aussichtspunkt, der mich ins Staunen versetzte … der verpasste Anruf von Angelikas Nummer auf meinem Handy … mein Unbehagen und der sofortige Rückruf … niemand nimmt ab … zurück im billigen dunkeln Motel ein weiterer Versuch Angelika anzurufen … endlich nimmt jemand ab. – Angelikas Vater sagt mir, dass sie tot ist.
Mein inneres Erstarren über Angelikas Suizid, der komplexe Trauerweg, alles begann am Bryce Canyon. Die Bilder dieses Parks hatten sich mit meinen Emotionen verbunden und wie ein Brandmal in meinem Erinnerungen festgesetzt.
Am nächsten Morgen, in die wärmsten Kleider gehüllt die wir von Südkalifornien mitgebracht hatten, machten mein Partner und ich uns auf den Weg in den Park. Wir begannen den Bryce Canyon von seinem Ende her zu Erkundung und machten bei eisiger Kälte und im Schnee eine Wanderung in der bizarren Mondlandschaft. Langsam arbeiteten wir uns nach vorne, bis wir schlussendlich genau an dem, von mir innerlich gefürchteten, Aussichtspunkt standen. Es war später Nachmittag, eine ähnliche Tageszeit wie vor zehn Jahren, nur eben Winter und die Wolken lagen über dem Bryce Canyon. Der Ausblick war atemberaubend. Dieses Mal lag ein weisser Zuckerguss auf den Felsformationen. So hatte ich diesen Ort noch nie gesehen…
Nach zehn Jahren an diesem Punkt angekommen brauchte ich etwas Zeit für mich. Ich stand da, Tränen liefen mir über die Wangen. Nochmals liess ich den inneren Film der letzten zehn Jahre des Trauerprozesses Revue passieren: den Schock und die Erstarrung, später die Verzweiflung und Lebensmüdigkeit, ich spürte die Trauer und Wut, doch am meisten wurde mir Angelikas Fehlen bewusst. Es hätte so vieles gegeben, dass ihr Freude bereitet hätte, für das es sich gelohnt hätte zu leben. Ich stand da, dachte nach und führte ein letztes inneres Zwiegespräch mit meiner verstorbenen Freundin. Ich spürte, dass es nun an der Zeit war loszulassen und sie ganz gehen zu lassen. In diesem Moment rissen die Wolken auf und Sonnenstrahlen trafen die Felsen, mein Gesicht und meine Gedanken. Ein Vogel flog vorbei Richtung Sonne. Ich öffnete meine Hände und breitete die Arme aus, als liesse ich diesen Vogel losfliegen. Ich betete, verabschiedete mich von meiner geliebten Freundin und vertraute sie Gott an. Traurig befreit und etwas durch den Wind ging ich zu meinem Partner zurück und umarmte ihn. Gemeinsam verweilten wir daraufhin beim Aussichtspunkt und bestaunten die Natur.
Abbildung 3 Bryce Canyon, März 2016
Reflexion
Trauerwege sind individuelle und lange Wege. Ich hatte keinen Abschied und kein Ritual geplant, aber spontan aus der Situation heraus, ergab es sich. Rituale und Abschiede, die Körper und Geist integrieren, können eine nachhaltige Wirkung entfalten. Sie können Emotionen und Denken verändern, wirken als Katalysatoren. Manchmal sind trauernde Menschen aber erst viele Jahre später dazu im Stande. Trauern und Abschiednehmen braucht seine eigene Zeit.
Nicht jede Person hätte dahin, wo das „Totsächliche“ sie traf, wo der Trauerweg unfreiwillig begann, zurückkehren müssen. Für mich war es aber wichtig, nochmals am Ausgangspunkt stehen zu können und nun einen neuen inneren Film zu gestalten. Einen mit aufgerissenen Wolken und einem frei fliegenden Vogel über einem verzuckerten Canyon. Das Reframing war notwendig, um die innere Erstarrung von damals ganz zu durchbrechen und neue Bilder, neue Erinnerungen zu erschaffen, wenn ich an Angelika zurückdenke. Aber noch wesentlicher: es war notwendig dahin zurückzukehren, um nach all den Jahren wirklich „à dieu“ zu sagen und Angelika Gott ganz anzuvertrauen.
Gott hat dir die Kraft, den Glauben und den Blick geschenkt, damit du Angelika auf Wiedersehen sagen konntest
Chrigel