Auch als die Jahre verstrichen, blieb Angelika in meinen Erinnerungen gegenwärtig. Es gab immer wieder Momente, wo sie unendlich fehlte, oder plötzlich ganz nah war. Im ganz normalen Alltag gab und gibt es so viele Dinge, welche mich an sie erinnern. In den drei folgenden, unverbundenen Abschnitten werden ein paar davon dargestellt:

  • Ich war im Konfirmandenlager, die Jugendlichen hatten etwas Freizeit und ich wollte mir gerade einen Kaffee holen. Da kamen drei meiner jungen Leiter auf mich zu und wollten mich überzeugen mit ihnen Tischfussball zu spielen. Wie ein Blitz traf mich dieser Gedanke. Ich hatte seit Angelikas Tod, seit fast fünf Jahren, nie mehr gespielt. Ohne sie Tischfussball zu spielen schien mir wie ein Verrat. Zudem hatte sie uns einen Gutschein für einen Tischfussballtisch zur die Hochzeit geschenkt – den sie nicht mehr einlösen konnte. Zögernd willigte ich dennoch in die hartnäckigen Überzeugungsversuche der Jugendlichen ein. Es machte Spass wieder zu spielen. Kaum zu Hause angekommen erzählte ich meinem Partner begeistert vom Tischfussball und von meiner Idee nun einen eigenen Tisch zu kaufen. Schon am nächsten Tag zogen wir los und fanden in der Nähe einen Vertreter mit guten Geräten. Nur 24 Stunden nach meiner Rückkehr aus dem Konfirmandenlager stand ein Tischfussball bei uns zu Hause. Auch heute noch hat er einen prominenten Platz im Wohnzimmer und erfreut nicht nur uns, sondern auch unsere Gäste.
  • Zwei Jahre nach Angelikas Tod entdeckte ich bei einer Freundin in der Wohnung eine Pflanze. Innerlich erstarrte ich und hatte Angelika vor Augen. Die Erinnerungen waren ganz lebendig, ganz nah. Ich erkannte die Pflanze, die ich seit Jahren suchte, aber nicht wusste wie sie heisst, sofort wieder. So eine Pflanze stand damals in Angelikas Wohnung. Wir waren beide von ihr fasziniert, kannten aber den botanischen Namen nicht. So nannte Angelika sie kurzerhand Gürk, denn ihr Stamm glich einer Gurke. Angelika hatte mir einen Ableger dieser Pflanze versprochen, da ich davon begeistert war. Ach dazu kam es aber nicht mehr. Nun entdeckte ich also diese Pflanze völlig unerwartet im Wohnzimmer einer Freundin, die mir auch den Namen sagen konnte. Zu Hause angekommen durchstreifte ich das Internet, bis ich schliesslich in Deutschland auf solche Pflänzchen und Samen stiess und mir schicken liess. Noch immer gibt es in meiner Wohnung viele Gürks (Spuckpalmen), welche die Erinnerung an Angelika wachhalten und mich zum Schmunzeln bringen.
  • In einem Küchenschrank, ganz zuhinterst und etwas versteckt, stehen zwei gleiche orange-gelb-rote Tassen. Mein Partner hatte es nur einmal gewagt, in diesen Tassen einen Tee zu machen. Es sind die zwei Tassen, welche Angelika und ich in unserer WG hatten und in denen wir immer gemeinsam Kaffee getrunken und Milchschaum gelöffelt hatten. Die Tassen sind im Schrank, sie kommen bei jedem Umzug mit, werden aber bis heute nicht mehr benützt. Dafür lache ich regelmässig über die Erinnerung, als ich Angelika jeweils im Restaurant einfach eine Tasse Milchschaum bestellte. Auch der Milchschaum, der nie auf meinem Kaffee fehlen darf, erinnert mich an sie.

Auch heute, über ein Jahrzehnt später, halte ich manchmal inne und überlege mir was sie wohl sagen würde? Was würde sie machen? Wie wäre ihr Leben? Es bleibt offen…und es bleibt alles anders.

Trockne die Tränen

Zieh deine Kreise

Der stille Weg

Folg dem Sonnenaufgang leise

Und tanz den Tanz auf dünnem Eis

 

Du kannst nur gewinnen

Genug ist zu wenig, oder es wird so wie es war

Stillstand ist der Tod, geh voran, bleibt alles anders

Der erste Stein fehlt in der Mauer

Der Durchbruch ist nah

(Herbert Grönemeyer, Bleibt alles anders)

 

 

Reflexion

Dass ein Suizid das Leben der hinterbliebenen Personen grundlegend verändert wurde nun schon vielfach erwähnt und ist ja nichts Neues. Auch andere Tode tun das. Hierin sind sich die Trauerwege ähnlich. Unerwartet und plötzlich wird man mitten im Leben wieder mit Erinnerungen an die Verstorbene konfrontiert. Mit grossem Kraftaufwand muss das Leben neu gestaltet werden.

Die Herausforderungen von Hinterbliebenen nach einem Suizid bestehen aber darin, bei den Erinnerungen nicht gleich zu erstarren, sie aus dem Leben auszusperren oder sich von den komplexen, emotionalen Flutwellen überrollen zu lassen. Für Angehörige oder Freunde ist es manchmal nicht einfach, die unerwarteten Reaktionen der Trauernden auf gewisse Situationen zu verstehen. Mein Partner hatte keine Ahnung warum ich ausrastete, als er sieben Jahre nach Angelikas Suizid eine Tasse aus dem Schrank nahm. Hilfreich waren die Situationen, als ich darin unterstützt wurde, Erinnerungen positiv wach zu halten bzw. als daraus etwas Neues wachsen durfte. Wie bei der Spuckpalme, die nun in unserer Wohnung wächst und gedeiht. Oder mein Partner, der sofort alle Hebel in Bewegung setzte, damit wir einen Tischfussball auftreiben konnten. Es ist nicht unvernünftig den Verarbeitungsimpulsen nachzugehen, auch wenn sie von aussen betrachtet eigenartig aussehen mögen. Vielmehr ist es unvernünftig im Stillstand zu verharren und es nicht anders werden zu lassen. Bleibt alles anders, so wird doch vieles neu.