Als Pfarrerin und Theologin bin ich es gewohnt, mich mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen. Viel bin ich an Trauergesprächen gesessen, sprachlosen Personen gegenüber, verstummt über dem grossen gesellschaftlichen Tabu „Tod“. Tabus wenden sich.Sexualität gehört heute wohl nicht mehr dazu. Das Thema Depression – schon schwerer, aber wir haben ja die Modebezeichnung Burnout kreiert, dann kann man darüber ja nun, wenn auch eher leise, sprechen. Doch der Tod? Der Tod macht sprachlos, haltlos, hilflos. Der Tod ist ausserhalb jeglicher Kontrolle und somit am Rande des Sprachlichen. Obwohl wir gerade die Tatsache Tod nicht umgehen können. Von mir als Pfarrerin wird erwartet, Worte zu finden, Sprache zu haben für etwas, was man nicht anspricht und am liebsten verdrängt. Pfarrerinnen und Pfarrer haben Worte für den Tod, manchmal bessere, manchmal schlechtere.
Was aber, wenn der Tod nicht durch Krankheit, Alter oder Unfall eintritt? Was, wenn ein Suizid dahintersteckt? Was, wenn die Betroffenheit Selbstbetroffenheit ist? Wenn nur alleine der Gedanke an einen Suizid Übelkeit hervorruft? Ja, dann wird es wirklich schwierig.
In einem Bewerbungsgespräch vor einigen Jahren hat mich jemand gefragt, was ich als mein grösstes Versagen bezeichnen würde. Innerhalb eines Sekundenbruchteils wusste ich die Antwort – sollte ich sie aussprechen? „Emotional gesehen, ist mein grösstes Versagen, dass ich den Suizid meiner engsten Freundin und Vertrauten nicht abwenden konnte.“ Der Profi in mir sagt da sofort: „Du kannst nicht die Schuld eines Suizides auf dich laden“. Eine andere innere Stimme besänftigt mich mit den Worten „Das war nicht deine Schuld, daran trägt niemand (und der Trotz sagt: oder alle!) Schuld“. Weiter habe ich in den letzten 10 Jahren folgende Worte wiedergekaut: „Wenn jemand wirklich gehen will, kannst du das nicht ändern“. Diese Worte, Stimmen, Argumente dafür und dagegen, Schuldzuspruch und -freispruch kennen viele, die mit einem Suizid in ihrem nahen Umfeld konfrontiert sind. Doch meist bleiben die Stimmen Gedanken, dürfen nicht ausgesprochen werden, da sie sich sonst wie eisige Kälte im Raum ausbreiten. Im ersten Jahr habe ich ein paar Mal versucht, den Tod meiner Freundin anzusprechen. Doch wer vor kurzem noch GesprächspartnerIn war, verstummte überfordert. Erschreckt und verstört schauten mich die Leute an. So liess ich es sein und verstummte auch.
Doch plötzlich hat die verstorbene Person keinen Namen mehr, kein Gesicht, keine Geschichte, sie ist nur noch der Suizid oder inexistent. Ohne Name bleibt wenig zurück, da wird nur noch von einem Geist, einer irrealen Illusion gesprochen. In den letzten 10 Jahren kann ich an zwei Händen abzählen, wie häufig der Name meiner Freundin gefallen ist – und falls es dazu kam, breitete sich Schweigen aus. Dem zu trotzen, kann hilfreich sein. Der Name meiner Freundin soll wieder ausgesprochen werden und nicht nur hinter vorgehaltener Hand: Angelika ist tatsächlich tot. Angelika, das ist ihr Name. Sie hat gelebt, genossen, gelitten, geliebt und sich das Leben genommen. Alles zusammen gehört zu ihr und zu ihrem Namen – Angelika.
Reflexionen
Lange Zeit war für mich gerade Angelikas Name mit einem Tabu belegt. Jedes Mal, wenn ich den Namen aussprach, zuckte nicht nur ich zusammen, sondern auch die Menschen in meiner Umgebung. In vielen Gesprächen ist mir das gleiche Phänomen auch bei anderen Menschen aufgefallen. Mit der Zeit wusste ich, wer jemanden durch Suizid verloren hatte. Doch bis heute kenne ich die Namen der Verstorbenen nicht.
Rückblickend habe ich festgestellt, dass es für mich hilfreich war (und ist) mich selbst immer mal wieder zu erschrecken und den Namen meiner Freundin auszusprechen. Ich habe festgestellt, dass ich dadurch mein eigenes inneres „Tabu“ aufbreche. Dies war für mich der erste Schritt, das Tabu „Suizid“ zu brechen.
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