Durch die Energie der Wut, die ich in Beitrag 19 beschrieben habe, und die Lebendigkeit der zwei jungen Strassenhunde fühlte ich mich nach und nach in der Lage mein Studium wieder aufzunehmen und es abzuschliessen. Ich kam zu folgender Einsicht, dich ich fett in meinem Tagebuch festhielt: „Mein Leben muss irgendwie weitergehen und deines hat einfach gestoppt – du hast es selbst beendet. Es macht mir Angst, nun etwas zu gestalten, das nicht so geplant war, das anders aussieht als erhofft…“.

Durch eine gute Lerngruppe, welche mich in allen Phasen der Trauer ertrug und die ich auch nicht aufgegeben hatte, war ich ziemlich up to date, was das Studium betraf. Wir lernten zu Hause zu zweit und zu dritt, manchmal mehrmals wöchentlich, unabhängig der eigenen Verfasstheit für die Lizenziats-Prüfung. An die Theologische Fakultät ging ich eher selten, es gab immer noch Räume, die ich mied, da der Aufenthalt darin sehr erinnerungs- und emotionsintensiv war. Ich hatte zum Glück vor Angelikas Tod schon alle Seminare absolviert. So war es mir möglich innerhalb von neun Monaten die letzte noch ausstehende Arbeit und die Lizenziats-Arbeit zu schreiben und alle schriftlichen und mündlichen Prüfungen für das Lizenziat zu absolvieren, und somit das Studium abzuschliessen. Diese Monate bestanden hauptsächlich aus Hundespaziergängen, Lernen und Arbeiten. Die vielen Tätigkeiten und ausgefüllten Tage halfen mir Angelika hie und da für kurze Zeit zu vergessen.

Genau ein Jahr nach Angelikas Suizid schien nun mein Leben, von aussen her betrachtet, wieder in normalen Bahnen zu verlaufen. Was von aussen „normal“ aussah war aber nur mit grossem inneren Kraftaufwand zu leisten. Täglich kämpfte ich damit, dass mich die Verzweiflung nicht überrollte und ich völlig blockiert vor den Lerninhalten oder den Arbeiten sass. Denn bei jedem Lerninhalt, bei jedem theologischen Fach wurden Erinnerungen an Angelika wach. Unsere Freundschaft und das Theologiestudium waren so ineinander verwoben, dass Lerninhalt und Erinnerung häufig zusammen fiel… und wir hatten noch viele gemeinsame Lern-, Kaffee- und Zukunftspläne. Nun war ich mit diesen Plänen alleine und trank die 12 Lernkaffees einsam vor mich hin.

Mein langjähriger Coach war für mich in diesem Moment eine gute Hilfe. Denn mit ihm zusammen konnte ich ein inneres Schubladensystem kreieren, welches sich als sehr nützlich erwies. Ich räumte der Verzweiflung und Trauere Zeiten ein, dann wurden sie in eine innere Schublade gelegt und ich versuchte mich wieder dem Alltag und dem Lernen zu widmen. Es brauchte etwas Übung bis das funktionierte. Das Schubladensystem half nicht immer, doch es gelang mir vermehrt nicht mehr in den endlosen Trauer- und Emotionsspiralen.

An Angelikas Todestag selbst musste ich fort, zu Hause hätte ich es nicht ausgehalten. Ich nahm meine Hunde und ging wandern, immer weiter und weiter, so dass ich zu Hause vor lauter Müdigkeit einfach nur noch einschlief. Die Tage und Wochen verstrichen, das Leben ging weiter, bloss etwas war anders, alles schien blasser, dem Sommer und Herbst, dem satten Grün der Wiese und den weissen Berggipfeln fehlten die intensiven Farben, sie waren von einem grauen Schleier bedeckt, welcher sich selten lüftete.

Reflexion

Der Suizid der geliebten Person durchtrennt nicht nur den Lebensfaden dieser endgültig, sondern schneidet auch viele Hinterbliebene, zumindest emotional, vom Leben ab. Den eigenen Lebensfaden nach einem Suizid wieder aufzunehmen ist ein langer und schmerzhafter Prozess. Er bedarf häufig täglich einer neuen bewussten oder unbewussten Entscheidung, er muss täglich erneut ergriffen werden. Wer Trauernde in dieser Zeit begleitet muss wissen, wie emotionsintensiv diese Phase ist. Denn nun bewegt man sich wieder in der Öffentlichkeit, es werden Räume betreten, Aktivitäten durchgeführt, Orte besucht, die unkontrolliert Erinnerungen wachrufen können. Zum ersten Mal wird das Leben wieder gelebt und das Fehlen der Verstorbenen wird im Alltäglichen offensichtlich. Um den Alltag zu bewältigen können kleine emotionale Ordnungssysteme hilfreich sein.

Was nur am Rande erwähnt wurde und doch zentral in meinem Trauerprozess war ist die kleine Lerngruppe. Da war es zum einen nicht nötig Masken zu tragen und zum anderen waren die Themen durch das gemeinsame Ziel vorgegeben und wir arbeiteten alle am Gleichen. Kaum etwas vermittelte so viel Normalität und Stabilität wie diese Lerngruppe.