Spontan beschlossen mein Partner und ich Freunde in Süditalien zu besuchen. Ein Tapetenwechsel konnte uns nicht schaden. So packten wir unser kleines Auto und fuhren Richtung Süden. Da der Suizid meiner Freundin immer noch mein Leben überschattete war es nicht so, dass ich mich sehr auf die Reise freute, oder mir viel davon erhoffte. Doch ich liebte Italien, das Lebensgefühl, die ungezwungene Atmosphäre, das Essen, den Wein, die Olivenhaine und das Meer. Andi und ich spazierten durch wilde Mohnwiesen, buddelten mit unseren Freunden essbare Wurzeln aus und tranken guten Kaffee. Wie es in Italien so üblich ist wurden wir Freunden von Freunden vorgestellt und wurden spontan zu einer Tauffeier mit ausgiebigem Mittagessen eingeladen. Dort lernten wir Leute kennen, die aktiv im Tierschutz mitwirkten. Das war für mich spannend, denn es war mir nicht bewusst gewesen, dass es hier Menschen gibt, die sich für die armen Hunde auf der Strasse einsetzten.
In den folgenden Tagen ging es weiter mit Besuchen und Festen. Unter anderem wurden wir auch zu einem Grillfest draussen auf dem Land mitgenommen. Die Sonne schien warm und mein vom Tod erstarrtes Innenleben konnte ein bisschen etwas vom Leben erahnen.
Als wir beim Grillfest ankamen stellte ich fest, dass es da ausser einem Rohbau, ein paar Olivenbäumen und den feiernden Menschen nichts gab. Ich hielt mich etwas abseits der Gruppe, beobachtete das Geschehen und die Umgebung, da fielen mir plötzlich zwei kleine Welpen auf. Beide schauten sich ängstlich und trotzdem neugierig um, waren abgemagert und hatten scheinbar grossen Hunger. Sofort bediente ich mich am Grillbüffet und futterte damit die hungrigen Hunde. Obwohl sie verängstigt waren, nahmen aber das Futter dankbar an und liessen sich von mir anfassen. Kaum näherte sich aber eine andere Person liefen sie davon. Ich fragte alle am Fest, ob sie diesen ausgesetzten Welpen nicht ein zu Hause geben wollen, doch die Leute lachten mich aus. Ich verbrachte einen grossen Teil des Tages mit diesen zwei kleinen Hunden, die mich mit grossen traurigen Augen ansahen.
Natürlich erinnerte ich mich daran, dass es immer Angelikas Herzenswunsch gewesen war einen Hund zu haben. Es stimmte mich traurig, dass sie ihr Leben beendet hatte, bevor ihr zum Beispiel sowas möglich war. In diese Gedanken vertieft, am Rande des Festes, erschienen mir diese zwei mageren, ängstlichen Welpen wie ein Wink von Angelika, ein Geschenk Gottes, ein dünner Lebensfaden, der sich mir hier anbot.
Reflexionen
Obwohl die Energie und Lust auf einen Tapetenwechsel in der Trauersituation häufig nicht vorhanden ist, kann er förderlich sein. Bei komplexen Trauersituationen, wie sie sich im Falle eines Suizids darstellt, geht es darum sukzessive auch wieder mit etwas Lebendigem in Kontakt zu kommen. Langsam zu spüren, zu erleben, zu schmecken und zu sehen, dass es mehr als nur den Tod, Verlust und die Endgültigkeit gibt. In der Vorstellung der trauernden Person scheint dies kaum möglich zu sein. Deshalb ist es so wichtig mit ins Leben genommen zu werden und Lebendigkeit mitzuerleben. Dreiviertel Jahre nach Angelikas Suizid, in denen ich mich vorwiegend abgekapselt hatte, kam mir in Italien das Leben entgegen. Meist sind das zarte Momente, wie wenn sich der Frühling mit dem Duft der ersten Blüten ankündigt. Manchmal gelingt es der trauernden Person auf die Handreichung des Lebens zu reagieren, den Lebensfaden zu erahnen und ihn aufzunehmen: aktivierte Resilienz als Antwort auf die Angebote des Lebens.