Wie im letzten Beitrag beschrieben, meldete sich die Wut plötzlich und wie ein Vulkan in meinem Trauerprozess. Anders war das mit den Schuldgefühlen. Die waren seit dem ersten Augenblick, als ich von Angelikas Suizid erfahren hatte, da. Manchmal waren sie nur latent und kaum spürbar anwesend, manchmal aber alles beherrschend. Monatelang rekapitulierte ich in unzähligen Wiederholungen mein letztes Telefonat, meine letzten SMS und Mails mit Angelika. Warum hatte ich nichts gemerkt? Hätte ich sie noch direkter auf das Thema ansprechen müssen. Es schien ihr doch besser zu gehen?! Warum hatte ich nicht darauf bestanden, dass sie uns auf unserer langen Hochzeitsreise besuchen kommt und ein paar Wochen mitreist? Hätte ich ihre Psychiaterin anrufen und sie auf die ausgestellten Schlaftablettenrezepte ansprechen müssen? Warum hatte ich mich ein halbes Jahr zuvor mit Angelika gestritten, wäre es anders gekommen, wenn das nicht gewesen wäre. Wir hatten uns doch schon längst versöhnt? Vielleicht tat ihr unsere Freundschaft nicht gut? Ich versuchte schriftlich in meinem Tagebuch mit der Schuldfrage einen Umgang zu finden:
«Im Angesicht von Angelikas Tod wird mir meine Machtlosigkeit immer wieder bewusst. Obwohl ich in die Beziehung zu Angelika so viel investiert habe und so oft zu Gott um ihr Leben gefleht habe, hat doch alles nichts genützt. Weder Gebet, noch Bemühungen, noch Liebe, noch Ermutigung und Freundschaft konnten in Angelikas Leben etwas verändern und ihren Tod verhindern. […] Weisst du Angelika, dass ich deinen Verlust nicht so einfach verkraften kann? Ich frage mich, was hätte dich am Leben erhalten können? Warum hat deine Familie deine Krankheit ignoriert? Warum hast du nicht angerufen, als es dir schlecht ging? Habe ich versagt? Was hätte ich tun sollen, damit du geblieben wärst? Ich hätte es spüren und wissen müssen! Warum habe ich nichts gemerkt? Ihr Tod ist so sinnlos, solch eine Vergeudung von Leben! »
Lange lebte ich in der Überzeugung, dass ich etwas hätte merken müssen. Ich hätte spüren müssen, dass sie sich das Leben nimmt. Wenn ich die eigenen Schuldzuweisungen nicht mehr aushielt, dann machte ich in inneren Monologen Angelikas Familie und dem weiteren Umfeld Vorwürfe. Warum hatte die Familie nichts gegen das Mobbing unternommen, dem Angelika als Kind ausgesetzt war? – Dann würde sie jetzt sicher noch Leben! Wie konnte eine ausgebildete Fachperson, eine Psychiaterin, so gedankenlos Medikamente verschreiben? – Das war doch fahrlässig! Und wo waren die anderen Freunde? – Die hätten es doch merken müssen!
Chaotisch, unkontrolliert und zermürbend drehte sich in meinem Kopf die Schuldspirale: Auch ich hatte versagt…
Reflexion
Nicht nur Wut ist Teil des Trauerprozesses nach einem Suizid. Ganz typisch sind Schuldgefühle. Ich habe unzählige Gespräche mit Hinterbliebenen geführt und es gab kaum je eines, indem Schuld, auch nach vielen Jahren, kein Thema war. Die Schuldgefühle und Selbstvorwürfe können in diesem komplexen Trauerprozess überwältigend sein. Häufig werden in endlosen Schlaufen Selbstgespräche geführt, in denen rekapituliert wird, was man anders hätte machen müssen, wie man den Suizid hätte verhindern können. Auch im Umfeld werden weitere Schuldige gesucht. Schuldgefühle gehören zu den stärksten Bindegliedern zu der verstorbenen Person. Sie sind zwar belastend, aber sie haben die Funktion die Beziehung aufrecht zu erhalten. Zudem schützen sie die Trauernden vor dem Gefühl der absoluten Ohnmacht. Paradoxerweise bleibt die suizidierte Person näher, wenn die Schuldfrage immer und immer wieder gestellt werden kann. Es bringt den Hinterbliebenen allerdings nichts, wenn sie unreflektierte Schuldzuweisungen oder –entlastungen hören. Gerade zu Beginn bringt es der trauernden Person nichts, wenn die Schuldfrage negiert wird und noch weniger, wenn vom Umfeld die Schuld aktiv zugeschoben wird. Schuldfragen dürfen, zumindest zu Beginn, auch einfach unkommentiert, aber doch gehört (!) bleiben. Später kann es hilfreich sein, wenn man der trauernden Person den Unterschied zwischen Schuldgefühlen und tatsächlicher Schuld aufzeigt und dabei mithilft, diese komplexen Emotionen einzuordnen.