Acht Monate nach Angelikas Suizid hatte ich es nun zum ersten Mal gewagt zurück an die Uni zu gehen. Die Sperrzone hatte ich betreten und unsichtbare Barrieren waren eingebrochen. Doch der erste Besuch in der Sperrzone ging nicht spurlos an mir vorbei. Am nächsten Tag tobte ein Erinnerungs- und Gefühlswirbelsturm in meinem Inneren. Angelikas Suizid hatte mich bis dahin häufig in eine lähmende Starre, in Verzweiflung und scheinbar unendliche Trauer versetzt. Doch nun traten andere Gefühle in den Vordergrund, die zwar schon vorher da waren, die ich aber bisher nicht bewusst wahrgenommen hatte. Meinem Tagebuch vertraute ich damals folgendes an:

«Gestern war ich das erste Mal wieder in Zürich an der Fakultät, dank Peter. Doch wie einsam und verlassen habe ich mich ohne Angelika gefühlt. Wie vertraut und gleichzeitig entfremdet ist mir alles vorgekommen. Mir wurde wieder einmal schmerzlich bewusst, wie allein und im Stich gelassen ich mich von Angelika fühle. Alles hat nichts mehr gezählt, die Pläne, Abmachungen, aber vor allem auch unsere Freundschaft – alles wurde für sie so bedeutungslos, dass sie es einfach wegwarf. Angesichts des Todes von Angelika, glaube ich manchmal, nie mehr richtig Lachen zu können, entweder bin ich tief traurig oder unglaublich wütend.»

In die Gefühle von Trauer und Einsamkeit mischten sich nun vermehrt Wut und Enttäuschung. Sie hatte alles weggeworfen, alle gemeinsamen Pläne, alle Abmachungen, Versprechen, einfach alles. Wie konnte sie mir das bzw. uns nur antun?! Das war verdammt nochmal unfair. Ich schäumte vor Wut und war zutiefst enttäuscht von Angelika. Gleichzeitig erschrak ich selbst über meine starken Gefühle. Durfte ich so wütend auf meine Freundin sein? War das legitim? Sie konnte ja nicht anders – oder? Wie ein Tiger im Käfig ging ich im Wohnzimmer auf und ab. Ich wusste nicht wohin mit meiner Wut. Sollte ich sie an mir selbst auslassen? An meinen Mitbewohnenden? Vor Enttäuschung hätte ich laut schreien können – doch ich schwieg – zuerst. Irgendwann zog ich meine Joggingschuhe an und lief in den nächsten Wald. Da stand ich nun alleine, stampfte und trat auf die Bäume ein, die um mich herumstanden. Immer und immer wieder schlug und kickte ich auf die Baumstämme ein. Ich war unglaublich wütend auf meine tote Freundin und hatte gleichzeitig kein Ziel mehr für meine Wut, Angelika hatte sich ja allem entzogen, mit meiner Wut und den Vorwürfen blieb ich alleine zurück. Irgendwann war ich müde vom Schlagen und Treten und hatte zudem schon blaue Flecken an Armen und Beinen – doch ich fühlte mich ein bisschen besser. So ging ich wieder nach Hause. Ich setzte mich an den Küchentisch, machte einen Plan für den Studien-Abschluss, entwarf meine Lizentiats-Arbeit, schickte dem Ethikprofessor meinen Entwurf und beschloss mein Studium so bald wie möglich zu beenden. Meine Wut löste die innere Erstarrung auf, ein neues Feuer brannte in mir, ohne dass ich mir dessen bewusst war.

 

Reflexionen

Wie eine Flutwelle brach plötzlich die ganze Wut, Empörung und Enttäuschung über den Suizid meiner Freundin über mich herein. Bei einem Suizid kann, anders als bei einem Unfall, die Schuld der sich suizidierenden Person zugeschoben werden. Der Suizid als höchster Grad der Autoaggression löst auch Fremdaggression aus. Ein Suizid kann so bei den Hinterbliebenen grosse Wut und Enttäuschung auslösen. Das Problem ist nur, dass die Adressatin der Wut fehlt. Die Wut und Enttäuschung läuft ins Leere oder wird auf das Umfeld projiziert, weil die eigentlich verantwortliche Person nicht mehr da ist. Hier ist es wichtig ein „gesundes“ Ventil für die eigene Wut zu finden und noch viel wichtiger die eigene Wut überhaut zuzulassen. Hinterbliebene Personen haben ein gutes Recht wütend und enttäuscht zu sein. Es ist hilfreich sich dies selber zuzugestehen. Für helfende Berufe ist es wichtig um diese Wut zu wissen, sich davon nicht erschrecken zu lassen und den Hinterbliebenen Personen zu helfen sich diese zu erlauben, auszudrücken und konstruktive Wege des Umgangs damit zu finden.